Abundance oder Abgrund?

Warum die KI-Revolution keine gerechtere Welt garantiert

Von Karl-Friedrich Fischbach (November 2025)

Schlarrafenland oder Überwachungsstaat

Elon Musk verkündet auf der Tesla-Aktionärsversammlung am 6. November 2025, sein humanoider Roboter Optimus könne Armut abschaffen.¹ Peter H. Diamandis spricht seit Jahren von einer Zukunft des Überflusses – „Abundance“ – in der künstliche Intelligenz, Robotik und Automation alle materiellen Bedürfnisse der Menschheit decken.²

Tatsächlich ist die technische Vision faszinierend und keineswegs unrealistisch. KI und Robotik steigern die Produktivität in einem Maß, das jede bisherige industrielle Revolution blass erscheinen lässt. Maschinen werden in wenigen Jahren nicht nur Autos, sondern Häuser bauen, Menschen pflegen, Lebensmittel ernten und sogar Software entwickeln. Das Ergebnis: eine Welt, in der theoretisch genug für alle da ist – aber möglicherweise keine Arbeitsplätze mehr.

Die Kluft zwischen Vision und Verteilung

Hier genau beginnt mein Zweifel. Denn Produktivität allein schafft keine Gerechtigkeit.

Die Geschichte zeigt uns immer wieder: Technologischer Fortschritt führt nicht automatisch zu gerechter Verteilung. Die erste industrielle Revolution brachte immensen Wohlstand – aber zunächst vor allem für Fabrikbesitzer, während Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen schufteten. Es brauchte Jahrzehnte des sozialen Kampfes, Gewerkschaften und Sozialgesetzgebung, bevor breitere Schichten vom Fortschritt profitierten.

Heute wiederholt sich dieses Muster – nur beschleunigt und in globalem Maßstab. Wenn KI-Systeme, Rechenzentren und Roboter in der Hand weniger Konzerne liegen, dann vergrößert sich die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen weiter – bis sie gesellschaftlich explosiv wird.

„Wir werden in einem harmlosen Szenario ein universelles hohes Einkommen haben. Jeder kann die Produkte oder Dienstleistungen haben, die er möchte. Aber es wird auf dem Weg dorthin viel Trauma und Umbruch geben.“ – Elon Musk im Gespräch mit Joe Rogan³

Der digitale Feudalismus

Schon heute gehören die größten KI-Modelle und Recheninfrastrukturen einer Handvoll Firmen. OpenAI, Google, Meta, Amazon, Microsoft und Tesla dominieren das Feld.⁴ Diese Konzentration ist beispiellos: Die vier großen Cloud-Anbieter (Microsoft, Amazon, Google und Meta) planen allein für 2025/26 Kapitalausgaben von über 380 Milliarden Dollar für KI-Infrastruktur.⁵ OpenAI selbst kündigt Investitionen im Billionenbereich an.⁶

Wenn diese Akteure durch Automatisierung nahezu alle produktiven Prozesse kontrollieren, entsteht kein „Abundance für alle“, sondern ein digitaler Feudalismus: Einige wenige besitzen die Werkzeuge der Schöpfung, der Rest wird zu Nutzern – oder zu „Versorgten“.

Die Macht konzentriert sich nicht nur auf der Ebene der KI-Modelle. Auch die zugrundeliegende Infrastruktur – die Rechenleistung, die Cloud-Dienste, die Halbleiter – liegt in wenigen Händen. Nvidia allein hat eine Marktkapitalisierung von über 4,6 Billionen Dollar und beliefert hauptsächlich die großen Tech-Konzerne.⁷ Eine Handvoll von Unternehmen kontrolliert damit die gesamte Wertschöpfungskette der KI-Ära.

Die Verteilungsfrage: Wer entscheidet?

Natürlich könnten wir theoretisch ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine „KI-Dividende“ schaffen, finanziert durch die Erträge der Automatisierung. Musk selbst spricht von einem „universellen hohen Einkommen“ in einem „harmlosen Szenario“.⁸ Auch andere Tech-Größen wie Sam Altman von OpenAI oder Chris Hughes (Facebook-Mitgründer) haben ihre Unterstützung für solche Konzepte erklärt.⁹

Aber wer entscheidet, wie viel Wohlstand umverteilt wird? Und wer kontrolliert die Maschinen, die uns versorgen? Verlassen wir uns darauf, dass die Tech-Milliardäre freiwillig teilen? Die bisherige Geschichte des Kapitalismus spricht eine andere Sprache.

Peter Diamandis argumentiert, dass exponentielle Technologien uns in den nächsten zwei Jahrzehnten größere Fortschritte ermöglichen werden als in den vergangenen 200 Jahren.¹⁰ Seine Vision von „Abundance“ sieht vor, dass Technologie Wasser, Nahrung, Energie, Gesundheitsversorgung, Bildung und Freiheit für alle zugänglich macht. Doch selbst Diamandis räumt ein: Seine größte Sorge gilt den nächsten zwei Jahrzehnten – der Geschwindigkeit des Wandels und der Fähigkeit der Gesellschaft, sich anzupassen.¹¹

Der Überwachungsstaat mit menschlichem Antlitz?

Musk selbst gab kürzlich eine Vision, die mehr beunruhigt als begeistert: Optimus als Gefängniswärter für Freigänger. Statt Menschen physisch einzusperren, könnten Roboter ihnen „folgen und sie davon abhalten, Verbrechen zu begehen“, erklärte er auf der Aktionärsversammlung.¹² Er verkaufte dies als positive Vision für Inhaftierte, eine Alternative zum traditionellen Gefängnis.

Was als technologische Effizienz verkauft wird, könnte in Wahrheit die Geburt eines totalen Überwachungsstaates sein – perfektioniert durch KI, die jede Bewegung, jedes Wort, jede Emotion analysiert. Ein humanoider Roboter, der so real wirkt, dass man „ihn anstupsen muss, um zu glauben, dass es tatsächlich ein Roboter ist“, wie Musk es beschreibt,¹³ könnte zum perfekten Instrument sozialer Kontrolle werden.

Die Ironie: Musk selbst äußerte auf der Telefonkonferenz zum dritten Quartal seine Sorge: „Wenn ich diese enorme Roboterarmee aufbaue, kann ich dann irgendwann in der Zukunft einfach abgesetzt werden? Ich fühle mich nicht wohl dabei, diese Roboterarmee aufzubauen, ohne starken Einfluss zu haben.“¹⁴ Der Schöpfer erkennt das Machtpotenzial – und möchte es für sich behalten.

Meine persönliche Perspektive als Biologe

Technischer Fortschritt war nie neutral. Er verstärkt bestehende Machtstrukturen, wenn wir nicht aktiv gegensteuern.

In der Biologie und in der Technik kennen wir das Prinzip der positiven Rückkopplung: Ein Prozess, der sich selbst verstärkt, tendiert zu Extremen – bis ein Regulationsmechanismus eingreift oder das System kollabiert. Die Konzentration von KI-Macht folgt diesem Muster. Wer über Rechenkapazität verfügt, kann bessere KI entwickeln. Bessere KI generiert mehr Profit. Mehr Profit ermöglicht noch mehr Rechenkapazität. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf.

Ohne gesellschaftliche Regulationsmechanismen – demokratische Kontrolle, Kartellrecht, Umverteilung – wird dieser Kreislauf nicht von selbst zur Stabilität finden.

Die zwei möglichen Zukünfte

Ich bin überzeugt: Der technologische Fortschritt wird den Überfluss schaffen. Musks Vision, dass Optimus die fünffache Produktivität eines Menschen erreichen könnte, weil er rund um die Uhr arbeiten kann,¹⁵ ist keine Science-Fiction mehr. Die Frage ist nicht ob, sondern wie diese Revolution abläuft.

Aber ob daraus ein Paradies oder eine Dystopie wird, hängt nicht von der Technik, sondern vom Menschen ab. Genauer: von den gesellschaftlichen Strukturen, Regeln und Werten, die wir jetzt etablieren.

Die MIT Technology Review bringt es auf den Punkt: „KI-Startups sind auf die Recheninfrastruktur von Microsoft, Amazon und Google angewiesen, um ihre Systeme zu trainieren, und auf die riesige Verbraucherreichweite dieser Firmen, um ihre KI-Produkte einzusetzen und zu verkaufen.“¹⁶ Die Kontrolle über die Infrastruktur bedeutet Kontrolle über die Zukunft.

Wir müssen uns jetzt entscheiden, wem die Zukunft gehört – den Algorithmen der Konzerne oder den Werten der Gesellschaft.

Die Notwendigkeit sozialer Intelligenz

Ohne soziale Intelligenz wird künstliche Intelligenz zur größten Ungleichheitsschleuder der Geschichte. Was bedeutet das konkret?

Erstens: Wir brauchen demokratische Kontrolle über KI-Systeme. Nicht jede Entscheidung über die Zukunft der Menschheit kann in Shareholder-Meetings von Tech-Konzernen fallen.

Zweitens: Wir brauchen eine Umverteilung der Gewinne aus Automatisierung. Die „KI-Dividende“ darf keine freiwillige Wohltätigkeit sein, sondern muss rechtlich verankert werden.

Drittens: Wir brauchen Bildung und Transparenz. Menschen müssen verstehen, wie KI funktioniert, wer sie kontrolliert und welche Konsequenzen das hat.

Viertens: Wir brauchen internationale Zusammenarbeit. KI kennt keine Grenzen – die Regulierung darf nicht an Ländergrenzen scheitern.

Mein Schluss: Optimismus mit Vorbehalt

Ich bleibe dabei: Die KI-Revolution ist nicht aufzuhalten – und sie sollte es auch nicht sein. Die technologischen Möglichkeiten sind faszinierend. Aber wir dürfen uns nicht von utopischen Versprechen blenden lassen.

Die Frage ist nicht, ob Maschinen Armut beseitigen können. Die Frage ist, ob wir als Gesellschaft bereit sind, die notwendigen politischen, wirtschaftlichen und ethischen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dieser technologische Fortschritt allen zugutekommt.

Musk hat recht, wenn er sagt, dass auf dem Weg zur KI-gestützten Abundance „viel Trauma und Umbruch“ liegen wird. Aber dieses Trauma ist nicht unvermeidlich – es ist eine Frage der Gestaltung.

Die Werkzeuge für eine bessere Welt sind da. Die Frage ist: In wessen Händen liegen sie?

Quellen und Anmerkungen

¹ Business Insider (November 2025): „Nach dem 1-Billion-Dollar-Gehaltspaket: Elon Musk kündigt an, dass der Optimus-Roboter ‚die Armut beseitigen‘ werde“. Aussagen von der Tesla-Aktionärsversammlung am 6. November 2025.
https://www.businessinsider.de/wirtschaft/elon-musk-roboter-optimus-wird-die-armut-beseitigen/

² Diamandis, Peter H.; Kotler, Steven (2012): „Abundance: The Future Is Better Than You Think“. Free Press. Das Buch argumentiert, dass exponentielle Technologien wie KI, Robotik und Biotechnologie uns ermöglichen werden, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu erfüllen.
https://www.diamandis.com/abundance

³ AOL/Business Insider (November 2025): Zitat aus Musks Interview mit Joe Rogan über die wirtschaftliche Zukunft mit KI und Robotik. https://www.aol.com/articles/elon-musk-says-optimus-eliminate-203055350.html

⁴ MIT Technology Review (Dezember 2023): „Make no mistake—AI is owned by Big Tech“. Der Artikel analysiert, wie KI-Startups auf die Infrastruktur von Microsoft, Amazon und Google angewiesen sind. https://www.technologyreview.com/2023/12/05/1084393/make-no-mistake-ai-is-owned-by-big-tech/

⁵ CNBC (Oktober 2025): „How much Google, Meta, Amazon and Microsoft are spending on AI“. Alphabet, Meta, Microsoft und Amazon heben ihre Prognosen für Kapitalausgaben auf über 380 Milliarden Dollar an. https://www.cnbc.com/2025/10/31/tech-ai-google-meta-amazon-microsoft-spend.html

⁶ CNBC (September 2025): OpenAI hat etwa 1 Billion Dollar an Infrastrukturdeals mit Partnern wie Nvidia, Oracle und Broadcom angekündigt. https://www.cnbc.com/2025/09/20/openai-leads-private-market-surge-as-7-startups-reach-1point3-trillion.html

⁷ Visual Capitalist (September 2025): „Ranked: AI Chatbot Market Share in 2025″. Nvidia hat eine Marktkapitalisierung von etwa 4,6 Billionen Dollar, wobei große Cloud-Anbieter 50% des Rechenzentrumsumsatzes ausmachen. https://www.visualcapitalist.com/ai-chatbot-market-share-in-2025/

⁸⁻⁹ Business Insider/AOL (November 2025): Musk über „universelles hohes Einkommen“ und Erwähnung von Sam Altman, Chris Hughes und Pierre Omidyar als Befürworter des Grundeinkommens.

¹⁰ Diamandis.com: „Abundance Book“ – „We will soon have the ability to meet and exceed the basic needs of every man, woman, and child on the planet. Abundance for all is within our grasp.“

¹¹ Britannica Essay (Mai 2018): Diamandis, Peter H.: „Abundance and Unemployment: Our Future“. Diamandis äußert Bedenken über die Geschwindigkeit des Wandels in den nächsten zwei Jahrzehnten. https://www.britannica.com/topic/Abundance-and-Unemployment-Our-Future-2119191

¹² Business Insider/Nau.ch (November 2025): Musk erklärte auf der Aktionärsversammlung, dass Optimus Straftätern folgen und sie davon abhalten könnte, Verbrechen zu begehen, anstatt sie physisch einzusperren.

¹³⁻¹⁴ Benzinga (November 2025): „Elon Musk Says Tesla’s Optimus Will Be An ‚Infinite Money Glitch’“. Enthält Musks Aussagen über die Realitätsnähe des Roboters und seine Sorgen um die Kontrolle über die „Roboterarmee“. https://www.benzinga.com/news/topics/25/11/48739557/elon-musk-says-teslas-optimus-will-be-an-infinite-money-glitch-that-ends-poverty-performs-surgery-and

¹⁵ Shacknews (Oktober 2025): Musk auf dem Tesla Q3 2025 Earnings Call über die fünffache Produktivität von Optimus durch 24/7-Betrieb. https://www.shacknews.com/article/146470/elon-musk-optimus-robot-world-poverty

¹⁶ MIT Technology Review (2023): Zitat über die Abhängigkeit von KI-Startups von der Infrastruktur der Tech-Giganten.

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