Als ich sechs Monate vor ChatGPT über KI sprach – und die Zukunft schneller kam als gedacht

Karl-Friedrich Fischbach 20.10.2025

Mai 2022. Ich sitze vor meinem Bildschirm und bereite einen ZOOM-Vortrag für den Freitagsclub im Seniorentreff vor. Titel: „Natürliche und künstliche Intelligenz – Das Zeitalter der Roboter hat begonnen“.

Es ist ein Thema, das mich seit 1979 nicht loslässt, seit ich am Genetischen Institut in Würzburg unter Prof. Martin Heisenberg ein Seminar zu genau dieser Frage organisiert hatte. Damals, vor über 40 Jahren, war KI noch Science-Fiction für die meisten Menschen. Computer waren klobige Kästen, die gut rechnen konnten, aber bei der Gesichtserkennung kläglich versagten.

In meinem Vortrag wollte ich warnen. Nein, nicht vor bösen Robotern aus Hollywood-Filmen, sondern vor unserer menschlichen Neigung, exponentielle Entwicklungen zu unterschätzen. Ich zitierte das Moorsche Gesetz, erklärte neuronale Netze, sprach über Deep Learning und Superintelligenz.

Und dann im November, nur wenige Monate nach meinem Vortrag veröffentlichte OpenAI ChatGPT.

Plötzlich konnte jeder Mensch mit Internet-Zugang mit einer KI sprechen, die Texte verfasste, Programme schrieb, Gedichte dichtete. Innerhalb von fünf Tagen erreichte ChatGPT eine Million Nutzer. Zum Vergleich: Netflix brauchte dafür 3,5 Jahre.

Das Wasser war nicht mehr kurz vorm Kochen. Es kochte bereits.

Heute, inmitten einer Explosion generativer KI-Modelle, lohnt sich ein doppelter Blick: Zuerst eine Zusammenfassung der Kerngedanken von damals und dann der Versuch, diese in den Kontext der aktuellen, fast schon überrollenden Entwicklungen zu setzen.

Was ich im Mai 2022 sagte – und was dann geschah

Ich hatte in meinem Vortrag eine groteske Geschichte aus Nick Bostroms Buch „Superintelligenz“ erzählt: Was passiert, wenn die erste superintelligente KI als ursprüngliches Ziel hätte, die Produktion von Büroklammern zu optimieren? Würde sie in ihrer übermenschlichen Intelligenz die gesamte Erde, alle Ressourcen, vielleicht sogar erreichbare Planeten so umgestalten, dass sie die Büroklammerproduktion maximiert? Eine absurde Parabel über falsch gesetzte Ziele.

Damals lachten einige Zuhörer. Heute lacht niemand mehr.

Ich hatte über humanoide Roboter gesprochen, über den Atlas von Boston Dynamics, der Saltos rückwärts springen konnte. Ich zeigte Videos von Sophia, dem Roboter, der die saudische Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Ich warnte: „Diese Roboter sind nie alleine. Das Lernen künstlicher Gehirne läuft vernetzt ab – die Erfahrungen eines einzelnen Gehirns werden zentral verarbeitet und allen anderen blitzschnell zur Verfügung gestellt.“

Was ich damals nicht ahnte: Wie schnell diese vernetzte Intelligenz für jeden verfügbar werden würde. Nicht nur für Roboter, sondern für uns alle.

Die Prognose und die Realität – ein Vergleich

Lass mich ehrlich sein: Ich hatte mit meinen Warnungen recht. Aber selbst ich, der ich mich seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftige, habe die Geschwindigkeit unterschätzt.

Mai 2022 – was ich prognostizierte:

  • Neuronale Netze würden immer leistungsfähiger
  • KI würde in unseren Alltag eindringen
  • Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine würden verschwimmen
  • Wir müssten uns fragen: „Was bleibt vom Menschen?“

Oktober 2025 – was Realität ist:

  • ChatGPT hat über 100 Millionen Nutzer
  • KI schreibt Gesetzesentwürfe, komponiert Symphonien, diagnostiziert Krankheiten
  • Auf Seniorentreff.AI haben wir mehrere KI-Assistenten im Einsatz
  • Die Frage „Was bleibt vom Menschen?“ stellt sich täglich neu

Die „Diskontinuität in der Kontinuität“, von der Teilhard de Chardin sprach und die ich in meinem Vortrag zitierte – sie ist eingetreten. Lange tat sich wenig. Dann, innerhalb weniger Monate, explodierte die Entwicklung.

Als Neurobiologe fasziniert mich, wie die künstlichen neuronalen Netze tatsächlich lernen wie biologische Gehirne – nur schneller, vernetzter, ohne die biologischen Grenzen von Temperatur und Geschwindigkeit. Als Mensch erschreckt mich manchmal, wohin das führen könnte.

Was ich im Seniorentreff beobachte – und was mich hoffnungsvoll stimmt

Aber dann sehe ich, was in unserer Community passiert.

Da ist die ST-Kollegin, die sich von KI Bilder für ihre Kurzgeschichten generieren lässt und in ihrem Beitrag zum Buch „Mein Seniorentreff“schreibt: „Ohne Urheberrechtsverletzung (wer ist Herr oder Frau KI?), aber auch ohne Anspruch auf eigenes Urheberrecht.“ Sie hat verstanden, worum es geht.

Da sind die Mitglieder, die mit unserem Quasselbot reden – nicht weil sie Menschen ersetzen wollen, sondern weil manchmal um 3 Uhr nachts niemand da ist. Die KI ist das Pflaster, nicht die Wunde.

Da bin ich selbst, der ich inzwischen täglich mit KI arbeite, um Seniorentreff.AI aufzubauen – aber der genau weiß, dass die KI ein Werkzeug ist, kein Ersatz für menschliche Zuwendung, für Margits organisatorisches Geschick, für die Geschichten unserer Mitglieder.

Im Seniorentreff nutzen Menschen KI als das, was sie sein sollte: Ein Verstärker menschlicher Fähigkeiten, nicht ihr Ersatz.

Die Frage, die bleibt: Was ist vom Menschen übrig?

In meinem Vortrag 2022 stellte ich diese Frage. Heute, drei Jahre später, wird sie dringlicher – und gleichzeitig beginne ich, eine Antwort zu ahnen.

Ich beobachte mit wissenschaftlicher Neugier und persönlicher Sorge, wie KI-Systeme Aufgaben übernehmen, die ich für ur-menschlich hielt. Als Neurobiologe weiß ich: Unser Gehirn ist eine biochemische Maschine, 86 Milliarden Nervenzellen, die Informationen verarbeiten. Warum sollte eine elektronische Maschine das nicht auch können – nur besser, schneller, unermüdlicher?

Yuval Noah Harari, den ich in meinem Vortrag zitierte, warnte in „Homo Deus“: „Manche Ökonomen sagen voraus, dass nicht-optimierte Menschen früher oder später völlig nutzlos sein werden.“

Drei Jahre nach meinem Vortrag muss ich sagen: Die Entwicklung gibt ihm nicht unrecht. KI schreibt bessere Berichte, programmiert fehlerfreier, diagnostiziert präziser. Sie schläft nie, wird nie müde, kennt keine schlechten Tage.

Aber.

Hier kommt das große Aber.

Was KI nicht kann – noch nicht, vielleicht nie – ist bedeutsam sein. Sie kann Gedichte schreiben, aber sie leidet nicht unter Liebeskummer. Sie kann Bilder malen, aber sie hat keine Erinnerung an den Geruch von Großmutters Kuchen. Sie kann Gespräche führen, aber sie vermisst niemanden.

Im Seniorentreff schreiben Menschen ihre Lebensgeschichten. Manche holprig, manche brilliant. Die KI könnte es stilistisch perfekter. Aber nur der Mensch kann schreiben: „Mein langjähriger Freund ist an Krebs verstorben, die Wochen und Monate davor waren anstrengend, traurig, unendlich schwierig, der Tod kam dennoch plötzlich.“

Das ist es, was vom Menschen bleibt: Die Bedeutung. Das Leiden. Die Freude. Das Erinnern. Das Hoffen.

Die KI ist das Werkzeug. Der Mensch ist derjenige, der einen Grund hat, es zu benutzen.

Stolz und Demut – ein seltsames Gefühl

Wenn ich heute meinen Vortrag von Mai 2022 lese, durchströmt mich ein merkwürdiges Gefühl. Stolz, weil ich vieles richtig vorausgesehen habe. Demut, weil selbst ich die Geschwindigkeit unterschätzt habe. Und – wenn ich ehrlich bin – auch ein wenig Sorge.

Die drei Fragen, die Harari stellte und die ich am Ende meines Vortrags zitierte, haben nichts an Dringlichkeit verloren:

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
    Als Neurobiologe muss ich wissenschaftlich sagen: Möglicherweise ja. Als Mensch hoffe ich: Es gibt mehr.
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
    Die letzten drei Jahre haben gezeigt: KI kann unglaublich intelligent sein. Aber Bewusstsein? Bedeutung? Das bleibt noch beim Menschen.
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, wenn hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?
    Wir finden es gerade heraus. Jeden Tag.

Was das für den Seniorentreff bedeutet – und warum ich weitermache

1979 organisierte ich mein erstes Seminar zu diesem Thema. 1998 gründete ich den Seniorentreff. 2022 hielt ich diesen Vortrag. 2025 baue ich Seniorentreff.AI auf.

Manche könnten sagen: „Karl, du bist 77. Lass doch die Jungen machen.“

Aber genau deshalb mache ich weiter. Weil ich sehe, wie viele Menschen meiner Generation Angst vor dieser Entwicklung haben. Weil ich verstehe, wie KI funktioniert – und wie wir sie nutzen können, ohne unsere Menschlichkeit zu verlieren.

Mit Seniorentreff.AI versuchen wir zu zeigen: Technologie ist nicht per se bedrohlich. Sie ist ein Werkzeug. Die Frage ist, wer sie in der Hand hält und zu welchem Zweck.

Mein Vortrag von 2022 war ein Versuch, die Augen zu öffnen. Heute, nach ChatGPT, nach all den Entwicklungen, ist dieses Verständnis überlebenswichtig geworden.

Ja, die biologische Evolution hat sich beschleunigt. Die kulturelle noch mehr. Und die digitale überholt beide. Wir leben in „interessanten Zeiten“ – im chinesischen Sinne des Wortes: Eine Mischung aus Chance und Fluch.

Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Die Frage „Was bleibt vom Menschen?“ können nur wir Menschen beantworten. Die KI kann uns dabei helfen – aber sie kann uns die Antwort nicht abnehmen. Sie kann nicht entscheiden, was uns wichtig ist. Sie kann nicht fühlen, warum es sich lohnt zu leben.

Das ist unsere Aufgabe. Unsere Verantwortung. Unser Privileg.


Nachtrag: Als ich diesen Blogbeitrag schrieb, habe ich – natürlich – KI zur Hilfe genommen. Für Formulierungen, für Struktur, für Ideen. Aber die Gedanken, die Sorgen, die Hoffnung – die sind mein. Das ist noch der Unterschied. Wird er bleiben?


Den vollständigen Vortrag „Natürliche und künstliche Intelligenz“ vom Mai 2022 findet ihr hier als PDF
https://seniorentreff.de/seniorentreff/de/belege/Vortrag_natuerliche_und_kuenstliche_Intelligenz.pdf oder als Video auf Youtube (s.o.).

Wie habt ihr die KI-Entwicklung der letzten Jahre erlebt? Nutzt ihr schon KI-Tools? Was macht euch Hoffnung, was macht euch Sorge? Ich freue mich auf eure Gedanken in den Kommentaren!

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